Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Europa! Europa!"

Lukas Tagwerker

Beobachtungen beim Knüpfen des Teppichs, unter den ihr eure Ungereimtheiten kehrt.

16. 4. 2009 - 18:46

Europa! Europa!

143 Zirkusnummern zur esoterischen Qualität des EU-Reformvertrags.

Was unternimmt eine Theatertruppe, die sich den Fragen unserer Gegenwart verpflichtet fühlt und einem exotistischen Zirkusspektakel Namens Afrika!Afrika! etwas entgegen spielen will?

A: Sie sucht nach einem Text, der die Verfasstheit der Weltprovinz Europa!Europa! befragbar macht, findet einen solchen im EU-Reformvertrag und bringt diesen in einem 143-Nummern-Varieté (die gespielten Nummern werden per Los ermittelt) auf die Bühne.

"Wenn die wichtigsten Texte unseres Lebens Gesetzestexte sind, dann ist der Vertrag von Lissabon wohl der wichtigste Text Europas."

Dier Damen in dunklen Glitzerkliedern, von denen eine aus einem Aktenordener rezitiert.

Theater im Bahnhof

Der Text (hier im Amtsblatt der EU, hier Kritik am Inhalt) besteht im Wortlaut zu weiten Teilen aus der EU-Verfassung, die durch Volksabstimmungen 2005 (54,7% Ablehnung in Frankreich, 61,6% Ablehnung in den Niederlanden) gescheitert war. Er wurde während der Ratifizierung in Österreich vor einem Jahr wegen seiner komplexen Struktur aufeinander verweisender Teilverträge (plus Anhänge, Erklärungen und Protokolle) öfters auch als "unlesbares Monstrum" bezeichnet.

Die Arbeit an der künstlerischen Aneignung dieses "Monstrums" brachte allerdings die gegenteilige Erkenntnis, wie der Schauspieler Rupert Lehofer im Falter-Interview erzählt: "Ich habe den Vertragstext jetzt intensiv gelesen, die anderen im Theater auch. Und man ist bass erstaunt, dass man ihn erstens lesen kann, dass man ihn zweitens versteht, und dass es phasenweise sogar Spaß macht."

In einschläfernd hypnotisierendem Gelassenheitston kommentiert eine aus dem Nichts sprechende Männerstimme die einzelnen Revue-Nummern und eröffnet damit sofort den Raum, der zwischen dem Brüsseler Atomium und volksnaher Technokratie einen gehauchten Lobbyismus von Privatheit und Intimität spannt. Als Identifikationsangebote tanzen nun namentlich genannte begnadete Körper auf: UnionsbürgerInnen wie die Notargehilfin aus Koblenz, die Textilhandelskauffrau aus Riga, der freigestellte Betriebsrat (als Clown Žižek wird er illusionslos festhalten, dass Liebe etwas Negatives ist) oder der drittstaatenangehörige Ehemann einer Unionsbürgerin, der prinzipiell weder Kauf- noch Mietverträge liest (wozu hat er einen Rechtsanwalt?) und Musik von Carla Bruni hört.

Sie alle nehmen einzelne Buchtsaben und Artikel des Gesetzestextes beim Wort, übersetzen die Entschlossenheit der Formulierung in Gebärdensprache, das Sinnliche und grausam Praktische in magische, scheinbar okkulte Rituale. So werden vom Chor live gesprochene Sätze wie "nemmasuz layol netiebra enagrO ieD" erst durch digitale Manipulation und Umkehrung verständlich gemacht.

Irrwitzige bis obskure Passagen des Vertragstextes wie der Wille "Verbindungen anderer Art" zwischen den UnionsbürgerInnen herzustellen, oder das Protokoll über die Sonderregelung Grönlands finden ihre Form in telepathischen Zauberkunststücken oder artistischen Dressurakten.

Die Zauberkunststückdame wendet sich vom Zauberkünstler ab, dahinter trägt Clown Habermas eine Trennwand fort.

Theater im Bahnhof

Clown  Žižek, Clown Enzensberger und Clown Habermas führen mit ihren begnadeten Körpern ein Kunststück auf.

Theater im Bahnhof

Clown Žižek, Clown Enzensberger und Clown Habermas bilden das deutsch-französische Rückgrat des Varietés.

FriedeFreiheitFortschritt

Zwischen slapstickhaften Momenten, in denen z.B. durch ZuschauerInnen-Aktivierung die Abstimmungsmodalitäten im EU-Rat anhand einer jeweils aktuellen Frage erläutert werden (bei mir war es: Soll die Luftraumüberwachung in der EU vereinheitlicht werden? Ich war Litauen und stimmte dagegen, weil ich eh schon Natomitglied bin.), strahlt immer wieder die kalte literarische Gewalt des Originaltextes hervor. So in der faszinierenden Passage über den Binnenmarkt oder im Artikel über den EU-Sozialfonds, in dem es um "die berufliche Verwendbarkeit" der UnionsbürgerInnen geht.

Das Stück "Europa!Europa!" nimmt selbst nicht Stellung zum Vertrag, gegen den in mehreren EU-Staaten (so auch in Österreich) Verfassungsklagen laufen. Es unternimmt bloß den ambitionierten Versuch, ihn für ein Bühnengeschehen zu übersetzen. "Man bewegt sich durch diesen Text, der keine Handlung an sich hat. Aber er handelt." sagt Regiesseur Ed Hauswirth.

Und so kann der Abend im Theater auch keine eigene Lektüre bzw. Auseinandersetzung mit dem Inhalt des EU-Reformvertrags ersetzen.

Womöglich regt er aber dazu an.

Damen und Herren laufen im Kreis um die Bühne

Theater im Bahnhof

Europa!Europa! bildet den Auftakt des Schwerpunkts State of the Nation im brut Theater in Wien, wo es noch bis Samstag, 18. April 2009 um jeweils 20.00 Uhr zu sehen ist.