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David Pfister

Rasierklingen, Schokolade, Zentralnervensystem, Ananas, Narzissmus und Ausgehen.

25. 3. 2009 - 10:54

Und Endlich Unendlich

Für kurze Zeit waren Selig der Nabel der deutschen Rockmusik. Nun feiern sie ein unerwartetes aber bis jetzt erfolgreiches Comeback.

Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
Jesus Christus, Offenbarung

Ich halte es ähnlich wie Jesus. Ich mag entweder den Minimalismus oder die berstende Feistigkeit. Bitte möglichst wenig Ironie in der musikalischen Ausführung. Mir ist der Künstler, der wankt und schwankt und balanciert und vielleicht auch kläglichst fällt, bei weitem lieber als der wasserdichte Kalkulant. Hat Rio Reiser nicht Kopf und Kragen riskiert? Hat man nicht einfach vergessen, was für grottenschlechte Musiken er im Rahmen seiner großen Kunst veröffentlicht hat?

Dass mir jetzt gerade Rio Reiser einfällt, hat damit zu tun, dass Jan Plewka, die Stimme von Selig, in seinem Hals eine Kehlkopf-Reinkarnation von Rio Reiser eingebaut bekommen hat. Also kurzer Geschichtsunterricht.

Selig

1994 regieren Nirvana die Welt und das erste Mal reagieren internationale Modemarken punktgenau und bringen entsprechend gestreifte Baumwollhemden als begleitende Maßnahme in die Versandkataloge. Der Alternative Rock darf in das Wohnzimmer und es ist kurz vor dem Boom des deutschsprachigen Indieslackertum, das dann Probanden wie zum Bespiel Die Sterne pflegen dürfen. Die deutsche Popszene hat eine kurze Phase der Irritation. Natürlich gibt es da etablierte Helden zwischen Kommerz und tiefstem Underground. Zwischen Tote Hosen, Herbert Grönemeyer und Neubauten. Aber dem jungen Teenager fehlt eine deutsche Stimme, die im Grunge- Duktus verfährt. Bis Selig auftauchen.

Regenbogenleicht

Die setzen auf eine Ästhetik aus damals aktuellem Grunge, Siebzigerrock, Lungenentzündung, einem Hauch RAF und Psychedelic. Sehr feist und grell. Und schlagen ordentlich über die Stränge. Und gerade das ist es, was damals kurz, aus der deutschen Perspektive, den Punkt der Zeit trifft. Diese konsequente Selbstverständlichkeit, sich auf Deutsch zu gebärden und zu artikulieren, ohne sich irgendwelche Hinterstübchen und Ironiefenster offen zu halten. Ähnlich wie der Udo Lindenberg in den Siebzigern. Nur ohne dem Faktum Klamauk. Dafür aber mit viel viel Pathos.

Das schlägt ziemlich fest ein. "Wenn Ich Wollte, "Sie Hat Geschrien" und natürlich "Ohne Dich" geben im Jugendzimmer einen ordentlichen Soundtrack ab. 1995, ein Jahr später, veröffentlichen Selig ihre zweite Platte "Hier". Sänger Jan Plewka verliert sich noch mehr in esoterischen Haschischbetrachtungen, Gitarrist Christian Neander ringt seiner Gitarre noch buntere Riffs ab. Die Band spielt im deutschsprachigen Raum in ausverkauften Hallen. In Wien spielt die junge Formation "Heinz" ihr allererstes Konzert als Support von Selig in der Arena Wien. Den grellen Rockzirkus Selig scheint es vor Erfolg zu zerreißen. Man sucht Ausgleich in elektronischen Spielereien und Firlefanz – auf diesen Zutaten basiert das Album "Blender" aus dem Jahr 1997. Auch noch erfolgreich und noch immer mit Melodien bis oben hin vollgestopft, aber schon merklich überspannt. Selig lösen sich in einem gewaltigen Burnoutsyndrom auf und die Selighörer schnallen sich viel zu enge Sportjacken um und beginnen, Tocotronic zu hören.

Die Bandmitglieder von Selig bleiben als Musiker aktiv. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Gitarrist Neander schreibt zum Beispiel die alternative Boyband Echt zum Erfolg. Jan Plewka steht und fällt mit seiner Ausnahmestimme. Seine Bandprojekte wie zum Beispiel "Tempeau" oder "Zinoba" sind Ende der Neunziger populärgeschmackstechnisch fehl am Platz. Erst als er mehr oder weniger dazu gezwungen wird, mit Rio Reiser-Liedern zu touren, ringt er einem breiteren Publikum endlich wieder Aufmerksamkeit ab.

Selig haben nach 12 Jahren Pause ein Comebackalbum namens "Und Endlich Unendlich" veröffentlicht.

Und jetzt kommen Selig völlig überraschend mit einem Comeback-Album daher. Und "Endlich Unendlich" heißt es, und es bemüht sich sehr, den klassischen Seligfaden wieder aufzunehmen. Und es gelingt. Eine völlig unmoderne Platte, weit am Zeitgeist vorbei. Für den Indie-Gymnasiasten viel zu rockistisch und mit richtig gespielten Solos. Für den breiten Geschmack aber trotzdem einfach zu eigenwillig und zu exotisch. Ein wenig ähnlich wie Randerscheinungen im Süßigkeiten und Limonadenbereich. Dr. Pepper und Chips mit Steakgeschmack sind ja nicht ganz oben auf der Topliste der Zwischendurchsnacks. Dass ich auf fordernde Gaumenexplosionen stehe, dürfte inzwischen wohl erkennbar sein.

In der Arena Wien spielen Selig am Mittwoch ein Live-Comeback.