Erstellt am: 28. 2. 2009 - 01:42 Uhr
Sick in the City
Was kann der zeitgenössische Rockkritiker heutzutage überhaupt noch Apodiktisches behaupten, zweiter Versuch: Du kannst so viele Schlagzeug-Bass-und-Gitarre-Trios gesehen haben, wie du willst - es wird immer noch eins geben, das dich überrascht.

Robert Rotifer
Zum Beispiel vorvorgestern im 12 Bar Club die Finnen Joensuu 1685. Sie sehen aus, als hätte der Grunge ihre Kindheit geprägt. Und sie klingen beizeiten wie eine Mischung aus My Bloody Valentine und Led Zeppelin. Irgendwann hatte ich außerdem Spacemen 3 vor Augen oder The Jesus & Mary Chain im Ohr.
Und danach wieder nichts von alldem.

Robert Rotifer
Rund um diese Band, die noch keinen britischen Plattendeal hat, gibt es das, was man hier einen buzz nennt. Es ist ihr zweiter von drei Londoner Gigs an drei Tagen, gemeinsam mit 22 Pistepirkko, auf deren Label Bone Voyage in Finnland ihr Album erschienen ist. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist ungeteilt, die Blicke starr und gierig auf die Bühne fixiert. Leute mit professionell aussehenden Kameras filmen und fotografieren ohn Unterlass. Ein wichtiger A&R-Agent schwingt zustimmend sein Bier im Takt. Und Joensuu 1685 sehen so aus, als wär ihnen all das doch eher schnurz. So soll es sein.
Mikko, der eine Joensuu (denn so heißen alle drei mit Nachnamen), dessen Keyboard genauso verzerrt brüllt wie seine beiden bauchigen Gitarren, zittert ständig, als stünde er unter Strom.

Robert Rotifer
Das Zittern überträgt sich auf seinen rechten Fuß, der das Wahwah-Pedal bedient. Manchmal beugt er sich tief nach unten und schraubt wild an seinen anderen Effektgeräten herum, während Gitarre und/oder Orgel unbeirrt weiterjohlen. Dann schnappt er sich den Schellenring und schlägt damit - ohne Rücksicht auf den Gitarrenlack - die Saiten an oder schüttelt ihn solange, bis sich im Scheppern selbst eine Melodie zu formen scheint. Beim Singen zeichnen sich auf seiner Stirn drei dicke Adern ab: "Sick City! Sick City!" Was immer hinter dem quasi-onomatopoeischen Rock'n'Roll-Englisch steckt, es ist sichtlich eine ernste Angelegenheit.

Robert Rotifer
Das ist auch an der strengen Miene von Risto, dem Joensuu am Bass, abzulesen, der so konsequent am Grundton klebt, dass jedes melodische Abweichen davon wie ein musikalischer Kontinentaldrift Furchen durch Mikkos vibrierende Obertöne-Landschaften zieht.
Ich hab ganz ehrlich nicht mehr und schon gar nichts Anderes als ein Guinness konsumiert und könnte doch schwören, indische Skalen über dem monotonen Drone zu hören, während ein Blick auf die Gitarren bestätigt, dass beide Joensuus die ganze Zeit über bloß ein hundsnormales D spielen.

Robert Rotifer
Unfair übrigens, dass ich den dritten Joensuu, Mikkos Bruder Markus am Schlagzeug, noch nicht erwähnt habe, dessen beharrliches Pauken ihn in diesem Zusammenhang wenig überraschend als gelehrigen Eleven der Mo Tucker-Schule erkennen lässt.
Wie so oft ist es eine Coverversion, die schließlich am besten sichtbar macht, wie eine Band tickt, in diesem Fall „Lost Highway“ von Hank Williams, mit bis zum allerletzten Augenblick hinausgezögerten, vom brillanten Hall verwaschenen Akkordwechseln und reichlich hypnotischer, finnischer Schwermut.
Ich hatte zwar vorher schon gewusst, dass ich vor 22 Pistepirkko gehen werden müsste, aber um ehrlich zu sein, hätte ich nach der dicken Obertonbrühe von Joensuu 1685 auch gar nichts mehr verdauen können. Meine Ohren waren voll. Angenehm voll.
Das Album von Joensuu 1685 ist letzten November bei Bone Voyage im Vertrieb von BB*Island erschienen.

Robert Rotifer