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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

25. 2. 2009 - 12:24

Rave On

Rückhaltslos euphorischer Bericht vom Konzert von M. Ward und den Lost Brothers gestern Abend in der Londoner Bush Hall

Was soll der zeitgenössische Rockkritiker heutzutage schon Apodiktisches sagen, frei nach Jon Landau: „Ich habe die Vergangenheit des Rock’n’Roll gesehen, und sie heißt M. Ward“? Wie lässt sich das ausdrücken, wenn man gestern bei einem Gig war, wo eine Band „Roll Over Beethoven“ gespielt hat, und jene uralten Neuigkeiten, die wir Herrn Tschaikowski ausrichten sollen, sich dabei so relevant und essentiell angefühlt haben wie ein Satz Winterreifen auf einer englischen Schneefahrbahn?

Aber beginnen wir beim Anfang, vor meinem kleinen Interview, das ich mit Matt Ward nach seinem Soundcheck führen durfte (dazu mehr in meiner nächsten Heartbeat-Sendung in zwei Wochen). Da kam ein dünner junger Mann mit rotem Haar und schwarzen Hornbrillen ohne viel Umschweife auf mich zu und gab mir mit den Worten „Wir sind die verlorenen Brüder“ eine LP in die Hand.

Die Platte war seine eigene bzw. jene besagter Lost Brothers, deren zweiter, ein gebückter junger Mann in Hut und Regenmantel, sich hinter dem ersten zeigte. Wie sich herausstellte, kam der eine von ihnen aus dem Süden, der andere aus dem Norden Irlands, ergo wohl der vielsagende Name.

Lost Brothers live in der Bush Hall

Robert Rotifer

The Lost Brothers

Ungefähr eine Stunde später liefen die beiden noch einmal an mir vorbei und diesmal schnurstracks auf die Bühne, schnallten sich jeweils eine Akustische um und begannen den Abend mit einem geradezu unwirklich stimmigen Duett im Stil der Everly Brothers bzw. der frühen Simon & Garfunkel, mit perfekten Gesangsharmonien, munter zwirbelnden, fingerfertigen Zupfgitarren und simpel aber schlau, wenngleich sehr traditionell gebauten Songs, vor allem übers Wegfahren von der Geliebten, im Falle von „Pale Moon“ offenbar in Richtung Irak-Krieg, ansonsten vielleicht einfach nur in Richtung des nächsten Konzerts.

Ein nur sehr ungefähr repräsentativer Eindruck:
lostbrothersmusic

Schließlich durfte ich später erfahren, dass die Lost Brothers, die einander in Liverpool als Straßenmusikanten kennen gelernt haben, schon seit einem Jahr keine fixe Wohnadresse mehr haben, sondern überhaupt nur mehr von Gig zu Gig reisen bzw. sich Übernachtungen an Privatadressen erspielen. Und wer sie gehört hat, würde ihnen wahrlich kein Bett verwehren.

Kristallluster und Stuck in der Bush Hall

Robert Rotifer

Mirror balls & chandeliers: Die Stuckdecke in der Bush Hall

Die Bush Hall war gründlich eingestimmt, enthusiastisch und menschenfreundlich gelaunt. Die Art von kollektiver Sanftmut eben, wo sich auf dem Weg zur Bar gleich drei Leute dafür entschuldigen, dass man ihnen auf die Füße gestiegen, ihnen seine Tasche in die Rippen gestoßen bzw. mit dem Ellbogen ihren Busen gestupst hat.

Eine Stimme aus dem Publikum forderte M. Ward und seine vierköpfige Band auf, „es zu rocken“, und die widmeten sich mit vollem Herzen der Erfüllung dieses Auftrags. Ich hatte M. Ward noch nie live gesehen, nur auf per Tonträger seit meiner ersten Begegnung mit „Transfiguration of Vincent“ („End of Amnesia“ hatte ich verpasst, „Duet for Guitars“ sowieso), gefolgt von „Transistor Radio“ und „Post-War“ über „Volume One“ von She & Him, seiner Kollaboration mit Zooey Deschanel, bis zum jüngsten Album „Hold Time“ seine Kunst verehrt (damit bin ich hier nicht der einzige).

Ich hatte leise Zweifel gehegt, ob sich der liebevoll aus viel Hall, atmosphärischem Rauschen und Bandkompression aufgebaute Charakter dieser wie archäologische Fundstücke klingenden Platten auf die Bühne übertragen ließe. Seit gestern sehe ich das umgekehrt.

M Ward und Band live in der Bush Hall

Robert Rotifer

M. Ward und Band, man verzeihe die Unschärfe und tröste sich damit, dass sie trefflich zum grobkörnigen Sound M. Wards passt

Was dieser Kerl und seine Band im Konzert anstellen, nimmt schon Bezug auf erwähnte, geliebte Alben, aber eigentlich nur als Sprungbrett für einen stratosphärischen Teppichflug durch ein offenes Märchenland des Rock’n’Roll, wo Blues-Figuren sich fließend mit europäischen Moll-Harmonien vermählen, wo das kollektive Stampfen der Sohlen auf der Bühne genauso expressiv ist wie die maultierhufgleichen Schläge der Snare-Drum und wo man unter Arrangements lebendige, unsichtbare aber fühlbare Gestalten versteht, auf deren Buckel die Musiker glückstrunken gen Schlussakkord reiten.

Wem da die Metaphern nicht durchgehen, der wurde vermutlich nicht geboren.

Matt Wards Stimme hat live das gleiche wunderbar traurige Timbre, aber mehr, viel mehr Volumen. Seine Gitarre klingt genauso wunderbar brüchig wie auf Platte, aber gelenkiger, flüssiger, freier. Ich weiß ja nicht, was in Oregon aus den Wasserhähnen kommt, aber alle in Wards Band können alles spielen so wie unsereins Tee kocht, ob Bass, Gitarre oder Klavier, als wär’s bloß eine Gefälligkeit unter Freunden. Wenn das Stefan Franke-Double auf der Bühnenlinken dann in „To Save Me“ vom Klavier zur Gitarre wechselt und auch noch ganz nebenher nach Manier eines Metal-Gitarristen sehr flink - aber mit butterweichem Ton - am Griffbreit herumzutappen beliebt, beginnt man sich während der fantastischen Zeitlupenversion von Buddy Holly’s „Rave On“, einer geschmeidig durch die Landschaft trabenden Darbietung von „Chinese Translation“ und der behutsamen Dekonstruktion von „Oh Lonesome Me“ zu fragen, ob M. Ward hier eigentlich nur der Band-Leader ist, weil er auf eine charakteristische Art weniger perfekt spielt als seine Kumpels.

Doch dann greift er allein zur Akustischen und klopft mit dem Daumen das tanzbarste Bass-Thema aus den Saiten, während die anderen Finger dazu solieren, bringt die Londoner zum Brüllen und findet schließlich über einen Umweg, der spielerisch entlang der von seinem Lehrmeister Howe Gelb vorgegangenen Routen tänzelt, zum Gospel-artigen „One Hundred Million Years“.

Der Meister und seine Band spielen „Post-War“, in einer vom Album her kaum mehr wieder zu erkennenden, stürmischen Wiedergeburt („Some lucky night“? Indeed), dann mehr von der neuen, „Epistemology“ und „Fisher of Men“, und jenen Song, der mich damals zum Fan gemacht hat, die Ode an seinen verstorbenen Freund „Vincent O’Brien“, gefolgt vom enthusiastischen Daniel Johnston-Cover „To Go Home“ und oben erwähnter unglaublicher Interpretation von Chuck Berry’s „Roll Over Beethoven“, bei der Matt Wards wandernde Finger in jeden kleinsten Zwischenraum eine melodische Liebeserklärung an das archaische Idiom flechten.

Noch im Ausklingen des Songs geht er rüber zum Klavier und hämmert, das Tempo von „Beethoven“ fortsetzend, sein „Big Boat“ in die Tasten, den letzten Song des Sets. Ich hab das sonst gern blasierte Londoner Publikum selten so unkontrolliert kreischen und stampfen gehört wie vor der Zugabe, dem sanften, mit dem Stillstand kokettierenden Titelsong seines neuen Albums „Hold Time“.

Nur Netz, nicht live:
mwardmusic.com

Einmal ließ die Band sich noch zurückholen, um „Magic Trick“ vom „Post-War“-Album zu spielen, übertragen in die erste Person: „I’ve got one magic trick, just one and that’s it / I disappear!“ Und das tat er dann auch, und hinterließ mich mit dem eingangs auseinandergesetzten Dilemma, wie zur Hölle ich nun vermitteln sollte, was ich gerade gehört und gesehen hatte.

Ich kann nur empfehlen, M. Ward zu erwischen, wenn er irgendwann in eure Umlaufbahn gerät. Nur bitte in der Zwischenzeit keine Live-Mitschnitte auf Youtube ansehen. Ich hab’s gerade probiert, das kann im Vergleich zum echten Leben leider überhaupt gar nichts. Vom Londoner Gig wird’s glücklicherweise eh kaum was zu sehen geben. Soweit ich das mitgekriegt hab, vergaßen die Leute vor lauter Aufregung glatt aufs Filmen...