Erstellt am: 2. 2. 2009 - 18:48 Uhr
White Riot
Ich war an sich ja wild entschlossen, dem für den/die MitteleuropäerIn kaum nachvollziehbaren, zwanghaften englischen Drang, jedes kleine bisschen Schneefall zur Wetterkatastrophe hochzustilisieren, eisern zu widerstehen.
Genau diese Einstellung ist schließlich schuld dran, dass der/die MitteleuropäerIn unter der Illusion lebt, mit seinem/ihrem stoisch erduldeten Scheißwetter immer noch besser dran zu sein als die von dem bisschen Regen und Nebel in Wahrheit ja äußerst mild bedienten Briten.

Robert Rotifer
Aber bevor ihr Älpler euch gegenseitig für euren unerschütterlichen Durchhalte-Machismo gratuliert, bedenkt, was arbeitsscheue InselbewohnerInnen aus zwei Zentimetern Schnee an beneidenswerten Ausreden für Müßiggang zu derivieren im Stande sind.
Nicht nur dass in London heute keine Busse und fast keine U-Bahnen unterwegs waren und die Flughäfen zusperrten, auch ein guter Teil der Schulen blieb zu (nicht die meiner Kinder, die für ihr pflichtbewusstes Erscheinen von der Headmistress unten abgebildetes Zertifikat verliehen bekamen).

Robert Rotifer
"Let's talk more about the weather now", sagt gerade der Nachrichtensprecher im Radio. Als ob irgendjemand hier dazu ermuntert werden müsste. Es heißt, der Schneefall heute sei der schlimmste seit 1991 gewesen. Wie es sich so ergibt, kann ich mich noch daran erinnern. Ich war damals gerade in London.
Es war die Zeit des ersten Golfkriegs (den Iran-Irak-Krieg und sämtliche Zeitalter davor nicht mitgezählt), es gab gerade eine schlimme Rezession, und eine in einem Mistkübel (Deutschland: Mülleimer) versteckte IRA-Bombe an der Victoria Station verpasste ich nur um eine Stunde (falls sich jemand fragen sollte, warum man nirgends in den Londoner Bahnhöfen was wegwerfen kann).
Eine allumfassende Düsternis hatte sich über die Stadt gelegt.
Aber ich kann mich erinnern, dass die alten Routemasters damals sehr wohl unterwegs waren. Auf dem Weg zu Cherry Red Records mit meiner Demo-Kassette in der Hand hab ich auf der Fulham High Street zu Fuß fünf davon überholt. Das Büro war dann natürlich zu.
Ebenso unvergesslich der Steak-Geruch, der das eiskalte Zimmer erfüllte, nachdem ich beim Heimkommen ins Hotel meine Chelsea Boots zum Trocknen vors Gas-Fire gestellt hatte. Die Ledersohlen waren Toast und zerfielen mit einem erbärmlichen letzten Knirschen.

Robert Rotifer
Heute ist die ökonomische Lage ähnlich beschissen, und es gibt auch Leute, die ihr Nicht-zur-Arbeit-Gehen mit mehr als bloß der Wetterlage zu begründen wissen: Großbritannien wird nämlich gerade von einer Reihe von wildcat strikes erschüttert.
Darunter sind keine Kratzattacken freilaufender Felidae, sondern Streiks und Protestversammlungen von Arbeitern ohne Unterstützung der Gewerkschaft zu verstehen, wie sie derzeit in mindestens neun Raffinerien und Kraftwerken in Großbritannien stattfinden. Auslöser des Konflikts war die Entscheidung des britischen Arms der Ölfirma Total, für Ausbauarbeiten in der Raffinerie in Lindsey, Lincolnshire, italienische Bauarbeiter einzufliegen, während heimische Arbeitskräfte keine Jobs finden.
Letztes Jahr hatte Gordon Brown mit der populistischen Parole "British jobs for British people" versucht, der vor allem im Norden Englands immer erfolgreicheren extrem rechten British National Party den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nachdem solcher Chauvinismus sich mit der im EU-Recht verbrieften Bewegungsfreiheit von Arbeitskräften nicht vereinen lässt, ging dieser Schuss nun ganz fatal nach hinten los.
Es ist tatsächlich schwer, in dieser Frage Sympathien für irgendwen zu entwickeln: Die Leute von der Ölfirma behaupten zwar, dass die eingeflogenen italienischen Arbeiter genauso bezahlt werden wie ihre britischen Kollegen, aber ich würde ihnen empfehlen, das nicht meiner Oma zu erzählen.
Umgekehrt ist der eifernde Ausländer-Raus-Gestus der Streikdemos auch nicht gerade sympathisch, abgesehen davon, dass nicht wenige britische Bauarbeiter sich in vergangenen Jahren im EU-Ausland selbst eifrig als Billiglohn-Konkurrenz angeboten haben.
Übrigens wollt ich heute ja eigentlich selbst von einer Art Gewerkschaftsversammlung berichten. Im Londoner Institute of Contemporary Arts hätte nämlich das erste Plenum der letzten Oktober gegründeten Featured Artists Coalition stattfinden sollen.
Aber schon am Vormittag kam das Email:
"Dear Supporter,
OUR MUSIC - OUR RIGHTS - OUR FUTURE
FIRST FAC MEMBERS MEETING – LONDON, 2ND FEBRUARY POSTPONED DUE TO SNOW!
The FAC is sorry to say that we have postponed the meeting today due to the heavy snow – apparently the heaviest in the South East for 18 years!
We will get back to you as soon as possible with our plans for a rescheduled meeting."
Klingt verdächtig nach "Revolution wegen schlechten Wetters abgesagt". Na ja.