Erstellt am: 29. 1. 2009 - 14:00 Uhr
Talking Solid Air
Vorgestern war's in der Bakerloo Line. Ich hatte gerade Zeit gehabt, ein bisschen zu verdauen, was ich vorher am Telefon mit einem geschätzten Kollegen aus Anlass des hier losgetretenen Konflikts über die Qualität des österreichischen Pop-Journalismus weiter assoziiert hatte. Wie üblich hielten all meine Schnellschussthesen einem weiteren Überdenken nicht ganz stand, aber immerhin waren da auch Ansätze, die ich nicht einfach verwerfen wollte. Das ist immer der Punkt, wo's anstrengend aber in Wirklichkeit erst spannend wird.
Und wie ich so grübel, sehe ich vor mir eine Erscheinung: Da steht mein personifiziertes Idealbild des britischen Musikjournalisten direkt vor mir, ebenfalls grübelnd, mit zusammengezogenen Augenbrauen die Längsstreifen im Bodenbelag des Underground-Waggons fixierend.
Es war einer dieser Zufälle, die man einem Drehbuch- oder Romanautor nie durchgehen lassen würde, also musste ich was draus machen, schon überhaupt, wo wir beide in Paddington ausstiegen.
"Tut mir leid, das ist jetzt sehr komisch und unpassend", sagte ich zu John Harris, während wir beide auf dem Bahnsteig in Richtung "Way Out/Trains" wetzten, "Aber ich hätte dir gern gesagt, dass du der einzige Musikjournalist in Großbritannien bist, den ich respektiere... Nein, respektieren ist das völlig falsche Wort. Der einzige, mit dem ich ständig einer Meinung bin." (Oder war ich in Gedanken doch eher per Sie? Schwer zu sagen)
"Oh, danke", sagte er. Was sollte er schon sagen. Und dann kamen wir ins Reden. Ich erklärte ihm, dass ich im selben Metier unterwegs sei und nun schon seit 12 Jahren aus der Nähe mitverfolgte, wie sich in diesem Land der journalistische Umgang mit Musik und Kunst gewandelt hat.

John Harris
Mir fiel auf, dass John Harris seine orange Fernsehschminke trug. Das Mit-ihm-einer-Meinung-sein, auf das ich mich vorher bezogen hatte, findet nämlich nicht selten im Wohnzimmer beim Newsnight Review statt, der freitäglichen kulturellen Konversation, bei der ein oder zwei Bücher, ein oder zwei Filme, ein oder zwei Theaterstücke, ein oder zwei Ausstellungen und manchmal ein wichtiges Pop-Album dem halbimprovisierten Urteil intellektueller Selbstdarsteller unterworfen werden.
Sehr spannend anzusehen und meistens auch sehr ärgerlich, wenn dabei etwa eine Germaine Greer nach ihren bissig kompetenten literaturkritischen Analysen - in Lob und Tadel gleichermaßen - ihr vollkommenes Unverständnis zeitgenössischer Popkultur unter Beweis stellt.
Um ehrlich zu sein, und da liegt ein großer Unterschied zur deutschsprachigen Welt, werden aber sowohl in der (mir viel zu pseudo-groovigen) Culture Show als auch im Newsnight Review immer auch umgekehrt Kritiker aus der Popwelt auf Hochkultur losgelassen.
Einige von ihnen erliegen dann der Versuchung, zum Beispiel mit der Verdammung des Theaters als grundsätzlich überkommene Kunstform den im britischen Pop-Diskurs gängigen, umgekehrten Snobismus als tumbe Trophäe ihrer Credibility vor sich her zu tragen.
Nicht so Mark Kermode (der aber eher im Film als in der Musik daheim ist), Miranda Sawyer (deren Geschmack ich leider fast nie teile), Paul Morley (der neuer Popmusik alte Innovationsansprüche überstülpt) oder eben mein großer Liebling John Harris. Den mir das Londoner öffentliche Verkehrsnetz gerade zum Austesten meiner Thesen serviert hatte.
"Ich frage mich gerade", sagte ich, schon auf der Rolltreppe, "ob wir es vielleicht nun doch mit einem Generationenproblem zu tun haben, das aber auf einer ganz anderen Ebene als erwartet ausgetragen wird. Es ist nicht etwa, dass wir wie frühere Generationen die neue Musik nicht verstünden. Sondern dass unsere Generation der Popmusik ein emanzipatorisches Potenzial beimisst, das in ihrer heutigen Rezeption gar keine Rolle mehr spielt und weder erwartet noch verlangt wird."
"Wie meinst du das?"
"Ich schreib ja unter anderem auch einen Blog für einen österreichischen Radiosender..."
"Uff. Müssen wir das nicht alle heutzutage..." (sein "Uff", ich empfinde es ja als Ehre und Privileg, sowieso)
"Und jedesmal, wenn ich den ökonomischen Verfall der Pop-Industrie thematisiere, kommt mir nur batzige Häme entgegen. Die Tatsache, dass kein Geld und keine Zeit mehr dafür da ist, mit dem Studio als Instrument Utopien für die andere Welt in deinem Kopf zu entwickeln, scheint niemand sonderlich zu interessieren. Im Gegenteil, da gibt es Leute, die einem allen Ernstes entgegnen, dass hinter einem Video-Spiel eben wesentlich mehr Arbeit stecke. Das DIY-Ethos des Punk wird so zum Pflichtmodell im Sinne der Rationalisierungslogik der Wirtschaftswelt."
"Ja, das ist eine ganz andere Dose voller Würmer, die du da aufmachst", sagte Harris (ich übersetze die "can of worms"-Metapher wörtlich und siehe da, sie passt umso besser, Deutsche würden ja eher in Wespennester stechen), "Platten sind auch gar nicht mehr dazu gemacht, dass du dich ganze Wochenenden lang in jedes kleinste Detail einer Single vertiefst und darin neue Welten findest. Deswegen hab ich mehr oder weniger aufgehört, über Musik zu schreiben."
Wie bitte? Mir war es nicht bewusst gewesen, aber Harris hatte recht. Es war schon eine Weile her, dass ich von ihm was über Musik gelesen hatte. Seine Kolumnen im Guardian drehen sich zwar grundsätzlich um politische Themen, aber ich hatte sie bisher offenbar unbewusst als Pop-Schreibe gelesen. Weil in meinem Kopf zwischen dem einen oder anderen auch gar nicht viel Unterschied besteht, genauso wie Harris' bekanntestes Werk The Last Party ebenso luzid über das Missverständnis Britpop wie über den Aufstieg Tony Blairs spricht.
Oder wie jenes in beiden Baustellen buddelnde Beispiel aus dem Dezember mit dem Titel The Sullying of our Songs. Und schau an, die Kommentare, die unter der Online-Version gepostet sind, klingen ganz ähnlich hämisch wie das, was ich üblicherweise auf der FM4-Seite für meine ziemlich synchronen Gedanken zu diesem Thema ernte. Die Philister feiern ihren Sieg über die vorgebliche Dekadenz des faulen Künstlerpacks, das besser was Ordentliches arbeiten soll. Weil es ja sonst nicht viel zum Feiern gibt.
Ich für meinen Teil sehe jedenfalls keine Antwort in dem Entschluss, nicht mehr über Musik zu schreiben. Und ich will mir immer noch von jeder Platte erwarten, dass sie meine Welt bereichert. Hoffe, das ist von euch aus okay.
PS: In Paddington hab ich dann einen österreichischen Musikjournalisten getroffen, der gekommen war, um einen Grace Jones-Auftritt zu rezensieren, und natürlich haben wir uns das Maul zerrissen über die Fluch/Blumenau-Geschichte und alles, was in ihrem Umfeld so gesagt wurde, dass es beim zweiten Guinness schon eine echte Freude war.
Eingefallen ist uns aber auch, dass Pop in den österreichischen Erwachsenen-Printmedien noch in den Achtziger Jahren praktisch unauffindbar war.
Interessanterweise war eine frühe Ausnahme die "Top"-Seite im Kurier, geschrieben zum Beispiel von einem gewissen Martin Blumenau, bzw. die Pop-Kolumne in der Neuen AZ, wo ich die (neben der von Ulli Fuchs in der Volksstimme) erste Print-Rezension über meine eigene Musik - von ebenjenem Martin Blumenau - lesen durfte. Vor ein paar Jahren hab ich mich bei arbeiter-zeitung.at umgesehen, wo alle Ausgaben der SPÖ-Parteizeitung, die als politisch parteiisches, aber grundseriöses Blatt angelegt war, als Scans einsehbar sind. Gerade die Tatsache, dass sich da nicht nach einzelnen Artikeln suchen lässt, macht das Wühlen in diesem Schatz umso spannender weil unberechenbarer.
Die ganzen wesentlichen Rock-Konzerte der Siebziger, die ich wegen Minderjährigkeit versäumt hab, und von denen uns, als wir Teenager waren, die alten Plattensammler vorschwärmten, kamen da jedenfalls einfach nicht vor. Selbst die größten Phänomene fanden in Österreich jenseits der öffentlichen Wahrnehmung statt.
Dafür gab es große Berichte von jeder Josefstadt-Premiere.
Kinder, ihr wisst ja nicht, wie schwer wir es früher hatten, sagt der Opa. Was wir nicht gegeben hätten für den Luxus, über den wir uns jetzt beschweren... Oder war vielleicht gerade die Tatsache, dass Pop die öffentliche Wahrnehmung eben nicht penetriert hat, am Ende ein wichtiger Teil seiner Magie?
PPS: Gerade gehört, dass John Martyn gestorben ist.
You've been painting the blues
You've been living on solid air
And you've been seeing it through
And you've been looking through solid air